Anlaufmanagement:

„Produktionssysteme müssen Mitarbeiter in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen“

„Wenn wir ein neues Produkt statt in neun Monaten vielleicht in drei Monaten auf volle Produktionskapazität fahren, dann bedeutet das bares Geld für das Unternehmen.“ Dieses Zitat von Dr. Norbert Reithofer, heute Vorsitzender des Vorstands der BMW AG, aus dem Jahre 2002, verdeutlicht einmal mehr die Wichtigkeit des Themas ‚Anlaufmanagement’ und hat an Bedeutung bis heute nichts verloren – vor allem dem auf dem Hintergrund von einer gewissen Marktsättigung und einer zunehmend kompetenteren Konkurrenz industriell aufstrebender Nationen wie Indien und China. Und wie man an den Entwicklungen gerade der deutschen Automobilindustrie in der jüngeren Vergangenheit ablesen kann (kürzere Produktlebenszyklen, gestiegene Produktvielfalt), muss das systematische Management des Anlaufs von Serienprodukten eine Kernkompetenz von Unternehmen in den Industrienationen werden. Dabei sind alle drei ‚Dimensionen’ des Anlauf­managements – das Produkt, die Anlagen und die Leistungserstellung verbundenen Prozesse – zu berücksichtigen. Permanente Anlauf- und Änderungsprozesse sorgen jedoch für einen hohen Flexibilitätsdruck für den Produktentstehungsprozess, die Fertigung und die beteiligten Zulieferer.

Auch für Dipl.-Ing. Michael Homuth, Ruhr-Universität Bochum, Fakultät für Maschinenbau, Lehrstuhl für Produktionssysteme, hat das „Thema eine sehr hohe Relevanz, denn Geschwindigkeit kann – neben Qualität – als Alleinstellungsmerkmal und Wettbewerbsvorteil gesehen werden. Trotz allen Bemühens Produkte zu kopieren, gelingt es aufstrebenden Marktteilnehmern wesentlich seltener, eine erfolgreiche Organisationsstruktur nachzubilden. Dies ist die Wettbewerbsdimension. In der Absatzdimension ist deutlich festzustellen, dass weder industrielle Abnehmer noch Privatkunden gewillt sind, längere Lieferzeiten zu akzeptieren. Wenn Qualität und Preis in etwa stimmen, dann kommt in aller Regel der am höchsten lieferfähige Anbieter zum Zug. Um ‚Lost Sales’ an nachziehende – und dann eventuell billigere – Marktteilnehmer zu vermeiden, ist ein erfolgreicher Serienanlauf von hoher Wichtigkeit.“

Doch es besteht hierzulande noch Nachholbedarf, dazu Dipl.-Wirt.-Ing. Stephan Keßler, Universität Dortmund, Fakultät Maschinenbau, Lehrstuhl für Fabrikorganisation: „Da auch aktuelle Studien – wie beispielsweise die Umfrage ‚Potenziale im Produktionsanlauf 2006’ (PISA2006) vom wbk Institut für Produktionstechnik, Universität Karlsruhe – belegen, dass die Zufriedenheit mit Anläufen in der Mehrzahl der Unternehmen nicht mit (sehr) gut beurteilt wird, muss es Handlungsbedarf geben. Im Rahmen unserer Forschungsaktivitäten wurden die Anlaufcharakteristika verschiedener Branchen betrachtet: Automobil-, Maschinen- und Anlagenbau sowie Elektronikindustrie. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Rahmenbedingungen sehr verschieden sind, und sich die Ansätze nicht ohne weiteres übertragen lassen.“

Es gibt auch Nachholbedarf in der Fokussierung auf die Kernprozesse der Produktion, und zwar nicht erst im Anlauf, sondern bereits weit im Vorfeld. Der Begriff des ‚Strategischen Anlaufmanagements’ ist in diesem Kontext sehr wichtig, dazu Dr. Josef Weinzierl, Mitglied des Managements AUDI AG: „Bereits im Produktentstehungsprozess ist ein großes Augenmerk auf die spätere Serienproduktion und deren Prozesse zu richten. Das Produkt muss schlanke, stabile und qualitativ hochwertige Serienprozesse ermöglichen und sicherstellen. Anlaufmanagement beginnt also bereits mit den ersten Phasen der Produktkonzeption.“

Dennoch lässt sich festhalten, dass einzelne Branchen wie etwa die Elektronikindustrie bereits heute sehr viel höheren Wiederholhäufigkeiten im Anlauf ausgesetzt sind und diese auch meistern. Bei aller Verschiedenheit werden sich Hersteller anderer Branchen – auch angesichts der Zunahme komplexer elektronischer Bauteile und der Integration komplexer mechatronischer Systeme in vielen anderen Produkten – mit den Erfolgsfaktoren und Vorreitern im Elektronikbereich auseinandersetzen müssen. Michael Homuth ergänzt: „Die Elektronikbranche ist sehr schnell. Ob das als Vorbild taugt, ist nicht einfach zu beantworten. Nachholbedarf haben alle Unternehmen, die im Geist und in der Führungsebene noch von den Siebzigerjahren geprägt sind, als Produkte in vielen Branchen mehr verteilt als verkauft wurden.“ Auch die Telekommunikationsbranche könnte als Vorbild dienen: viel kürzere Produktlebenszyklen, viel häufigere Anläufe, viel schneller auf Kammlinie. „Ein exzellentes, etabliertes Anlaufmanagement muss eine systemimmanente, integrative Betrachtung von Produkt und Prozess mit der konsequenten Fokussierung auf Qualität, Stabilität, Kosten und Termine zum Ziel haben. Alle betroffenen Abteilungen müssen dazu an einem Strang ziehen. Unterstützend wirkt dazu, alle Beteiligten bereits in der Produktentwicklung an Zielen der späteren Serienproduktion zu messen“, fasst Dr. Josef Weinzierl zusammen.

Das Produktionssystem ‚von morgen’ mit Fertigung, Montage und Logistik muss auf jeden Fall flexibel ausgelegt sein. Es muss fähig sein, verschiedene Modelle über eine Linie zu fahren, um saisonale und lebenszyklusbedingte Stückzahlschwankungen in der Produktion nivilieren zu können. Das Produktionssystem muss auf die konsequente Eliminierung jeglicher Verschwendung konzentriert sein und die wertschöpfenden Prozesse optimal kombinieren, austakten „und den Mitarbeiter in den Mittelpunkt der gesamten Betrachtung stellen. Seine Tätigkeit zu optimieren, muss die Zielrichtung des gesamten Produktionssystems sein, das nicht an den Abteilungsgrenzen der Produktion aufhören darf. Die gewerkübergreifende Optimierung muss im Mittelpunkt des Interesses aller stehen und somit eigentliche und essentielle Aufgabe des Produktionssystems sein“, plädiert Dr. Josef Weinzierl. Innerhalb dieses Thema kommt gerade den Tier1-, Tier2- und den Modullieferanten eine hohe Bedeutung zu, „eine nicht hoch genug zu würdigende“, wie Michael Homuth meint, Homuth weiter: „Es gibt per se keine unwichtigen Bauteile. Entweder man hat alles zur Produktion Nötige wie etwa Menge und Qualität oder nicht. Folglich gibt es keine unwichtigen Lieferanten. Höchstens welche, die im Ernstfall leicht zu substituieren wären, was heute praktisch selten der Fall ist, da meist Systemlieferanten gewollt sind, um die eigene Komplexität zu mindern. Da Supply Chains insgesamt aber immer mehr Teilnehmer haben – als logische Folge von leanen Unternehmen und Outsourcing – wird die Steuerung dieser Netzwerke zu einer komplexen Aufgabe. Kompetenz von Lieferanten ist es vielfach, einen bestimmten Beschaffungsmarkt im Griff zu haben und das ist auch meist nicht von neuen Netzwerkpartnern kurzfristig zu leisten.“ Die Lieferantenkette muss in den gesamten Optimierungsprozess mit eingebunden werden. Immerhin erbringt sie den überwiegenden Teil der Wertschöpfung am Fahrzeug und ist somit als zentraler Bestandteil des Produktionssystems zu betrachten. „Das Management der Lieferanten, die partnerschaftliche Einbeziehung in alle Prozesse des strategischen Anlaufmanagements nach der Philosophie ‚Von Anfang an richtig!’ ist somit eine weitere große Herausforderung, die erfolgsentscheidend sein wird“, erläutert Dr. Josef Weinzierl.

Das Alles erfordert optimierte Organisationsstrukturen mit kurzen Regelzyklen, um effektiv und effizient auf Probleme im Anlauf reagieren zu können. Analyse- und Problemlösekompetenz müssen dabei in einer Hand sein. Zudem muss die Anlauforganisation direkten Zugriff auf die notwendigen Abteilungen in den betroffenen Geschäftsbereichen haben – idealerweise im Rahmen einer flexiblen, effizient arbeitenden und hochdynamischen Projektorganisation. Doch ein gesicherter Entwicklungs- und Erprobungsprozess bei zunehmender Produktkomplexität – Mechatronik, zunehmende Softwareanteile und X-by-Wire-Technologien – und verteilten Entwicklungspartnern kann nur durch die konsequente Verfolgung der Produktreife vom Beginn der Konzeptentwicklungsphase bis in den Serienanlauf sichergestellt werden. Dies erfolgt über abgestimmte Reifegrad-Kriterien, die Notwendigkeiten und Schwerpunkte einzelner Bauteil-Familien darstellen können. AUDI-Manager Weinzierl ergänzt: „Die Kriterien sind nach einem Kunden-Lieferanten-Prinzip zwischen den Partnern abgestimmt. Wichtig ist, dass es für die Erfüllung jedes Kriteriums nur EINEN Verantwortlichen – Lieferanten – gibt, die Information über den Stand des Kriteriums selbst aber vielen Kunden zur Verfügung steht, die sie als Input für die weitere Projektarbeit verwenden. Diese Systematik kann und muss auch in die Lieferantenkette ausgerollt werden, um ein Fahrzeug in seiner Gesamtheit abdecken und monitoren zu können.“ Alle Notwendigkeiten neuer Technologien werden ebenfalls in konkrete, mess- und verfolgbare Kriterien formuliert und können so von Projektbeginn an konsequent gesteuert und überwacht werden. Damit wird eine hohe Produktreife zum Serienstart gewährleistet.

Dr. Josef Weinzierl fasst zusammen: „Für die Messung und Verfolgung der Produktreife ist ein Portal zu implementieren, auf das alle internen und externen Wertschöpfungspartner zugreifen können und das nutzerindividuell die Informationen bereitstellt, die notwendig sind, um die eigene Arbeit in der komplexen Projektwelt zu bewältigen bzw. die als Basis für eine fundierte Entscheidungsfindung im Produktentwicklungsprozess notwendig sind. Überdies ist es vor allem wichtig Prozesse zu implementieren die sicherstellen, dass notwendige Informationen schnell dort hin kommen, wo sie gebraucht werden, um sicherzustellen, dass keine Entscheidungen bzw. Werkzeugkonstruktionen oder gar der Aufbau von Fahrzeugen unwissentlich auf Basis obsoleter Daten und Projektstände geschieht und somit sehr viel Zeit und finanzielle Ressourcen verschwendet werden.“ Doch: Die Formulierung, Ausgestaltung, Implementierung und konsequente Umsetzung dieser Prozesse kann keine Software übernehmen, sondern muss von der Organisation geleistet werden. Software-Tools können solche Top-Prozesse nur unterstützen.

Projekte, Forschungsvorhaben und Arbeitskreise zum Thema Anlaufmanagement:

www.ruhr-uni-bochum.de/vp-elan: Effizientes Anlaufmanagement innerhalb KMU-basierter Kunden-Lieferanten-Netzwerke

www.fzk.de/ fzk: Anlaufmanagement im Netz

www.ramup.de: Anlaufmanagement – eine Wettbewerbsstrategie für Unternehmen mit Serienproduktion.

www.messpro-online.de: MESSPRO steht für ein Forschungsverbundprojekt, das auf die Umsetzung von sicheren und schnellen Produktionsanläufen abzielt

www.proactas.de: Proaktive Anlaufsteuerung von Produktionssystemen entlang der Wertschöpfungskette

www.hi-per.de: High Performance Ramp-up – Schnelle Serienanläufe und anlaufrobuste Produktionssysteme im Bereich Mikrosystemtechnik/Mechatronik

www.ramp-up-halbe.de: Das Ziel des Forschungsvorhabens Ramp-Up/2 ist die Erschließung von Rationalisierungs- und Optimierungspotenzialen in der Anlaufphase beim Anlagenhersteller ebenso wie beim Kunden.

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