„Durchdringung der Arbeitsprozesse mit IT-Unterstützung steigt mit Low-Code“

Anfang März 2023 hat die Low-Code Association das Low-Code Manifest veröffentlicht. Es zeigt, welche Veränderungen sich in der IT-Branche und im Arbeitsalltag durch Low-Code und No-Code ergeben und welche noch zu erwarten sind. Über Folgen und mögliche Anwendungen dieser Technologie sprach Tino Böhler mit Stefan Ehrlich, Vorstand SQL Projekt AG, Dresden.

Böhler: Welches sind Ihrer Meinung nach die gravierendsten Folgen, die sich durch die Verwendung von Low-Code- und No-Code-Technologie in der IT-Branche und auch im Arbeitsalltag ergeben werden?

Stefan Ehrlich: Im Arbeitsalltag führen Low-Code- und No-Code-Ansätze dazu, dass viel mehr Menschen, die nicht mehr IT-Spezialisten sein müssen, Spezial-Anwendungen erstellen und Prozess-Abläufe modellieren können. Bisher wurden für die Unterstützung von Arbeitsprozessen teilweise recht aufwändige Auswahlverfahren sowie Anpassungsprojekte von Standard-Anwendungen durchgeführt oder Individual-Lösungen direkt neu entwickelt. Mit Low-Code- und No-Code-Ansätzen können viel mehr Arbeitsprozesse im Unternehmen mit IT unterstützt werden als auf konventionellen Wegen. Somit steigt die Durchdringung der Arbeitsprozesse mit IT-Unterstützung deutlich.

Für die IT-Branche verschiebt sich das Wertschöpfungsmodell noch mehr hin zu Schaffung und Nachnutzung einzelner Lösungsbausteine, wobei die Nachnutzung zunehmend direkt durch die Kunden erfolgt. Da Low-Code- und No-Code-Ansätze deutlich kürzere Entwicklungszyklen ermöglichen, können Anwendungen durch Iterationen (Prototyping, MVPs) passgenauer gestaltet und auch schneller an sich ändernde Rahmenbedingungen angepasst werden. Organisationen werden dadurch responsiver und wettbewerbsfähiger.

Böhler: Sind Low-Code- oder sogar No-Code-Programmieren wirklich für Laien geeignet?

Ehrlich: Dafür müssen wir uns einigen, auf welchem Gebiet der Laie Laie ist. Bezogen auf die Programmierung ist die Antwort prinzipiell ja. Kompetenzen in den Bereichen der Strukturierung von Abläufen und Abstraktion von Informationen sind erforderlich. Und weiterhin muss der Nicht-Programmierer auch den Geschäftskontext verstehen oder diesen sich mindestens erarbeiten. Denn nur so kann im Ergebnis eine fachlich nützliche Anwendung heraus kommen.

Wenn die eigenen Mitarbeiter mit Low-und No-Code-Technologie Abläufe schneller automatisieren, schneller unterstützende IT-Lösungen bereitstellen können, dann reduziert sich der Anteil an manueller Arbeit. Dies wiederum schafft Freiraum, für weitere Digitalisierungsprojekte. Bild: SQL Projekt

Böhler: Bedeuten solche Selfmade-Applikationen etwa das Ende standardisierter ERP-Systeme?

Ehrlich: Ich glaube, das wird nicht passieren. Standardisierte ERP-Anwendungen bilden die häufigsten Anwendungsfälle für eine spezielle Domäne ab und bringen damit ganz viel der nötigen Funktionen mit. Es macht also keinen Sinn, dass jeder Laie sich die immer wieder gleichen Standard-Funktionen eines ERP-Systems ‚zusammenklickt‘. Aber ich erwarte eine umfassendere und leichtere Anpassbarkeit der ERP-Systeme durch Low-Code-Ansätze. Das ist heute ja bereits in vielen Produkten sichtbar.

Böhler: Laut einer aktuellen ERP-Studie stufen mittlerweile knapp ein Drittel der größeren Unternehmen diese Entwicklungsplattformen als Trend mit hoher Relevanz ein. Bei kleinen Firmen sind es immerhin rund 16 Prozent. Wie interpretieren Sie diese Zahlen?

Ehrlich: Wenn ein Drittel der Mitarbeitenden Low-Code als Trend einstuft, ist das meiner Meinung nach ein klares Signal, dass es auch ein Trend ist. Interessant ist, dass es in kleinen Firmen, die noch deutlicher unter IT-Fachkräftemangel leiden, die Wahrnehmung des Trends deutlich kleiner ist. Ich denke, das liegt daran, dass die IT-Durchdringung und die Bekanntheit von Potenzialen, die IT-Lösungen mitbringen, in kleineren Firmen einfach noch nicht so hoch ist, wie in größeren.

Böhler: Branchenprimus SAP hat kürzlich sein Low-Code-Programm ‚SAP Build’ vorgestellt: müssen die anderen Player im IT-Markt zwangsläufig folgen?

Ehrlich: Meiner Meinung nach müssen sie das, aber nicht wegen SAP, sondern weil der Trend zu Low-Code und No-Code aus den genannten Gründen einfach da ist, schon bevor ‚SAP Build‘ angekündigt wurde. Da ist die Reaktion von SAP darauf primär ein Beleg für die Relevanz von Low-Code- und No-Code-Ansätzen. Allerdings ist nichts schwarz-weiß auf dieser Welt und ich möchte betonen, dass es auch immer Anbieter für ausgewählte Problemstellungen geben wird, die ohne Low-Code oder No-Code auskommen werden.

Böhler: Wo sehen Sie als Spezialist für Automatisierung von Datenbereitstellung und Produktionsprozessen die meisten Anwendungen (in der Fertigungsindustrie) von Low-Code- und No-Code-Programmieren?

Ehrlich: Ich sehe da ein breites Spektrum. Schaue ich auf den Shop-Floor, fällt mir sofort das Dresdner Unternehmen Wandelbots ein. Mit deren Lösung können die verschiedensten Industrie-Roboter via Teaching-Stift programmiert werden. Der Werker macht vor, der Roboter nach. Auch die Ablaufsteuerung von Maschinen kann so programmiert werden. Schaut man auf den Top-Floor, sind wir wieder bei CRM oder ERP mit wachsendem Low- und No-Code-Anteil. Potenziale, die unserer Meinung aktuell noch in vielen Unternehmen ungenutzt bleiben, sind die, die in der Automatisierung ganzer Geschäftsabläufe stecken.

Aktuelle Low-Code-Integrationsplattformen verbinden die Systeme auf dem Top-Floor miteinander und mit den Systemen auf dem Shop-Floor. Damit können die verschiedensten Anwendungsfälle, wie etwa Energiedaten-Monitoring, Digitaler Produktpass, Emissions-Reporting, IIoT-Datenmonitoring, Intralogistik-Prozesse oder  Brownfield-Integration auf einer Plattform realisiert werden, mit den Vorteilen von Low-Code versteht sich. In vielen Unternehmen sehen wir hier aktuell programmierte Einzelverbindungen zwischen den vorhandenen Systemen oder dedizierte Einzellösungen.

Böhler: Ist das (noch) handel- und finanzierbar?

Ehrlich: Das geht schnell ins Geld. Die Operational Costs für die IT-Landschaft liegen in vielen Unternehmen bereits weit über 30 Prozent des Gesamt-IT-Budgets, Tendenz steigend. Das kann in eine kritische IT-Sackgasse führen und ein Unternehmen die Wettbewerbsfähigkeit kosten. Der Grund liegt letztendlich in der Komplexität, die durch den Einsatz und das ‚Zusammenprogrammieren‘ vieler Speziallösungen entsteht. Diese Komplexität wird dabei von immer wenigen Menschen beherrscht. So sind laut einer Studie von Roland Berger aus dem Jahre 2022 bereits jetzt 60 Prozent der CIOs der Meinung, dass ihre IT-Landschaft kaum noch beherrschbar ist. Damit sich die Unternehmen nicht ins Aus digitalisieren, sollte also auch der Einsatz einer Low-Code-Integrationsplattform in Betracht gezogen werden.

„Ich sehe da ein breites Spektrum. Schaue ich auf den Shop-Floor, fällt mir sofort das Dresdner Unternehmen Wandelbots ein. Mit deren Lösung können die verschiedensten Industrie-Roboter via Teaching-Stift programmiert werden.“ (Stefan Ehrlich). Bild: Wandelbots

Böhler: Wo sehen Sie die größten Unterschiede zwischen integrierten und externen Low-Code-Plattformen? Wo liegen jeweils die Vor- und Nachteile?

Ehrlich: Meiner Meinung nach sind externe Low-Code-Plattformen funktional breiter aufgestellt und flexibler, man kann verschiedenere Problemstellungen damit bewältigen. Die Integration in bestehende Lösungen muss dann aber über Schnittstellen erfolgen, das kann evtl. manchmal limitierend wirken. Integrierte Low-Code-Plattformen funktionieren reibungsloser mit den IT-Anwendungen, zu denen sie gehören. Viele Funktionen, die man auch sonst in den Anwendungen findet, können als Low-Code-Bausteine nachgenutzt werden. Eine Lösung von Problemstellungen außerhalb der Domäne der IT-Anwendung kann aber möglicherweise schwer werden, etwa die Programmierung eines Industrie-Roboters innerhalb eines ERP-Systems oder die Lieferketten-Integration via MES.

Böhler: Deutschland hat akut (wieder mal) einen Fachkräftemangel. Allein in der IT fehlen nach Bitkom-Angaben aktuell 137.000 IT-Fachkräfte: Ist dieser Mangel mit Low-Code und No-Code völlig zu beheben?

Ehrlich: Mit Blick auf die Kompetenzen, die ein Low-Code-Developer mitbringen sollte, eventuell nicht völlig. Aber lindern wird sich der Mangel auf jeden Fall lassen. Wenn man so will, handelt es sich um eine Aufwärtsspirale. Wenn die eigenen Mitarbeiter mit Low-und No-Code-Technologie Abläufe schneller automatisieren, schneller unterstützende IT-Lösungen bereitstellen können, dann reduziert sich der Anteil an manueller Arbeit. Dies wiederum schafft Freiraum, für weitere Digitalisierungsprojekte.